Eine unterschätzte Basisfähigkeit – ein Bestandteil aller Bewegungshandlungen!

Die Gleichgewichtsfähigkeit ist kaum von unseren Bewegungen wegzudenken. Unser Gleichgewichtssinn entsteht primär aus den zusammengefügten Informationen des Gleichgewichtssystems (vestibuläres System), der Tiefensensibilität (Propriozeption) und des Sehens. In der Medizin spricht man hierbei von einer anatomischen und funktionellen Dreifachsicherung. Somit wird beispielsweise das Gleichgewicht bei einem Gesunden, wenn er seine Augen schließt (Ausfall optischer Informationen) zwar merkbar aber nur leicht beeinträchtigt. Diese Dreifachsicherung des Gleichgewichtes zeigt sehr präzise deren wichtige Funktion für jegliche sensomotorischen Bewegungshandlungen. Die Sensomotorik beschreibt das Zusammenwirken zwischen Reizaufnahme (Sensorik) und Reizantwort in Form von Bewegung (Motorik).

Sehr bedeutend für die Entwicklung ist das Beginnen des Sitzens und des Gehens im Kindesalter sowie der Zeitraum zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr. Wesentlich hierfür sind der Bewegungsdrang und die körperlichen Spielaktivitäten der Kinder. Um ein sicheres statisches Gleichgewicht beim Laufen, Gehen oder Stehen gewährleisten zu können, benötigt es möglichst viele verschiedene komplizierte Anforderungen. Dazu gehören z.B. Fahrradfahren, Balancieren – Gehen über einen Balken, Bewegung auf unebenen Untergründen, Skaten usw.

Bereits nach dem 12. Lebensjahr wird die Zunahme der Gleichgewichtsfähigkeit geringer und kommt sogar ziemlich schnell zum Stillstand.

Ohne die Verbindung von aktions-/zielorientierter Muskelaktivität und jener zur Aufrechterhaltung von Haltung, Stellung und Gleichgewicht sind keine Körperhaltungen und keine Aktivitäten denkbar. Kurz gesagt: Ohne Gleichgewicht ist keine Aktions- bzw. Zielsensomotorik möglich.

Beobachtet man langjährige/erfahrene Sportler*innen im OCR-Bereich, Traillauf oder z.B. in Spielsportarten wie Fußball, Handball und im Kampfsport, dann wird schnell ein großes Repertoire an einsetzbaren Bewegungshandlungen beispielsweise zum Ausspielen, Umlaufen, plötzlichen Stoppen, Kompensieren usw. sichtbar. Diese routinierten Athlet*innen beherrschen für jegliche Situationen eine sportliche Technik, um auf vorliegende situativ variierende Hindernisse reagieren zu können. Hierbei ist die antizipierte Gleichgewichtsregulation in der final genutzten, angeeigneten Handlung ein wichtiges Element. Es ist kein Neuerlernen von Ziel- und Gleichgewichtssensomotorik nötig, sondern eine Anpassung der veränderten Körperschwerpunktverlagerungen und daraus resultierenden Gleichgewichtsbedingungen. Die Auswahlhandlung ist ein Ablauf der von der Vielseitigkeit der sensomotorischen Handlungsfähigkeiten im Trainingsverlauf lebt.

Die Gleichgewichtsfähigkeit wird grob in 4 Bereiche klassifiziert (2).

  • Das Standgleichgewicht bei Bewegungen ohne Veränderung des Ortes (Stehen, Wackelbrett, Slackline etc.).
  • Das Balanciergleichgewicht bei Bewegungen mit Veränderung des Ortes (Laufen, Gehen, Balancebalken, Fahrradfahren, Inlineskates, Eislaufen, Skifahren etc.).
  • Das Drehgleichgewicht bei und nach Bewegungen mit Drehungen (Rotationen) um die eigenen Körperachsen (Umdrehung, Tanzschritte, Sportarten mit Akrobatikanteil etc.).
  • Das Fluggleichgewicht bei Bewegungen im Raum ohne Kontakt zum Boden (Flugphase bei Sprüngen, Turnen, Überqueren von Hindernissen etc.).

Ein Sprichwort besagt: „Was nicht trainiert wurde, kann auch nicht beherrscht werden.“ Gleiches gilt auch für die Bereiche der Gleichgewichtsfähigkeit. Sollten Probleme in bestimmten sportartspezifischen Bereichen bestehen müssen auch genau diese Störungssituationen trainiert werden. Oft sollte man nicht seine Stärken noch mehr festigen und dadurch seine Schwächen missachten. Das Nichtbeachten spezifisch trainierter Fähigkeiten sollte als wichtiger Faktor für ungenügende Trainingsergebnisse betrachtet werden (3).

Übungsbeispiele für die jeweiligen Gleichgewichtsbereiche:

Standgleichgewicht

Stabile große Unterstützungsfläche:

  • Aufstehen zum beid- bzw. einbeinigen Stand (wieder Hinsetzen)
  • beid- bzw. einbeiniges Stehen (optional mit geschlossenen Augen)
  • Squats, Lunges, Deadlifts etc.
  • beid- bzw. einbeiniger Stand mit Verlagerung des Oberkörpers/ Hantieren der Arme
  • Stand mit zusätzlichen koord. Aufgaben wie Gegenstände fangen oder werfen

Änderung der Unterstützungsfläche: z.B. Kleiner werden (Balken)

Instabile Unterstützungsfläche:

  • z.B. Stehen/Übungen auf weicher Matte, Gummikissen, Trampolin, Kreisel, Wackel- Kipp- Rollbrett oder Trampolin.

Balanciergleichgewicht

                Auf einer großen stabilen Fläche:

  • Gehen (optional mit geschlossenen Augen)
  • Gehen entlang einer schmalen Markierung

                Auf einer kleinen stabilen Fläche z.B. einem Balken

                Auf einem instabilen Untergrund: z.B. einer Slackline

                Auf einer variierenden Unterlage:

  • z.B. Gehen mit Tempoänderungen, Richtungswechsel geplant oder reaktiv durch Signale.
  • Fahrradfahren, Schifahren, Balancieren auf einem Ball, Surfen etc.

Drehgleichgewicht

  • Drehungen um die eigene Längs oder Breitenachse
  • Sprünge aus dem Stand mit Drehungen
  • Drehen z.B. auf einem Kreisel oder Stuhl
  • Rollen, Saltos in verschiedene Richtungen

Fluggleichgewicht (alle Bewegungen mit Flugphasen)

  • Sprünge
  • Seilspringen (mit Variationen)
  • Trampolin
  • Weitsprung, Hochsprung
  • Skispringen, Fallschirmspringen

Mit sportlichen Grüßen, Andi 🙂

Quellen:

Bertram A & Laube W. Sensomotorische Koordination: Gleichgewichtstraining auf dem Kreisel. Stuttgart: Thieme; 2008.

Hirtz P, Hotz A, Ludwig G. Bewegungskompetenzen Gleichgewicht. Schorndorf: Hofmann; 2000.

Mansfield A, Peters AL, Liu BA, Maki BE. A pertubation-based balance training program for older adults: study protocol for a randomised controlled trial. BMC Geriatrics. 2007;7(1):12.

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  1. Das ist ein super Beitrag, Andi – nicht nur für mich, sondern auch für jemand, wo ich diesen Blog sofort als Email weiterleiten werde. Danke für den informativen Input, LG, Reiny

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